Die goldene Regel beim Autofahren in den USA lautet: niemals Tramper mitzunehmen. Seit der Sache mit der Manson-Family damals ist klar warum. Noch während der grauhaarige Mittfünfziger sich und seinen transparenten Plastikbeutel auf unsere Rückbank wuchtet, bereuen wir es, die Regel gebrochen zu haben.
Everglades, USA
Der mit pinkem Textmarker bekritzelte Zettel mit der Aufschrift "Anywhere" hatte uns überzeugt. Ein Serienmörder hätte mehr Aufwand betrieben. Jetzt sitzt Jeff, wie sich unser Passagier vorgestellt hat, auf der Rückbank neben Larry, Barry und Mary, den drei Moskitos, deren halb zermatschte Körper uns seit den Everglades begleiten. Im Plauderton erzählt er, dass er gerade aus dem Knast kommt. Während wir überlegen, ob sich der Einsatz von Anti-Bärenspray im geschlossenen Auto positiv oder negativ auf unsere Überlebenschancen auswirken würde, tischt Jeff uns eine unglaubwürdige Geschichte auf, von illegalem Campen, einer Verfolgungsjagd mit der Polizei und einer Arrestzelle. Wir hatten immer davon geträumt es einmal in die Schlagzeilen zu schaffen, im Zusammenhang mit einem Nobelpreis oder weil wir den Klimawandel gestoppt haben, aber nicht als Opfer in einem besonders grausamen Mordfall. Bis zu welcher Geschwindigkeit überlebt man eigentlich den Sprung aus einem fahrenden Auto? Jeff scheint von den panischen Blicken, die wir untereinander austauschen, nichts mitzukriegen und fragt, ob er sich an den Keksen bedienen kann, die neben ihm liegen. Im Gefängnis gab es nichts zu essen.
Zwischen den Kaugeräuschen von der Rückbank entwickelt sich ein Gespräch. Jeff fragt uns, woher wir kommen und was wir schon alles erlebt haben. Er erzählt uns von seinen eigenen Reisen durch Europa während der frühen 80er Jahre, von der Punkszene in London damals und er empfiehlt uns Kneipen in jeder Stadt an der Ostküste. Heißt das, er geht davon aus, dass unsere Reise weitergeht? Er wird uns nicht zwingen, unsere eigenen Gräber mit dem Klappspaten auszuheben?
Sonnenuntergang im Nationalpark
Wir fahren zu der Stelle, an der unser Passagier nach eigenen Angaben seine Habseligkeiten vor der Polizei versteckt hat. Während er in den Büschen verschwindet, um seine Sachen zu holen, beratschlagen wir. Flucht oder Bleiben? Wir bleiben und als er kurz darauf mit einem großen Rucksack und einer Akustikgitarre zurückkommt, sind wir froh über unsere Entscheidung. Mörder spielen keine Gitarre – Sid Vicious war Bassspieler! Wir versprechen Jeff, ihn am nächsten Tag zu seinem Wagen zu fahren, den ein Abschleppdienst in die entgegengesetzte Richtung von seinem Besitzer gebracht hat. Bis es soweit ist, verbringen wir den Abend zusammen. Lagerfeuer, Dosenbohnen, Gitarrenmusik aus den 70ern. Vielleicht war es nicht schlau, einen potenziellen Serienmörder mitzunehmen – aber schön.